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Pro Kultur, pro Nachtleben!

Langsam geht es weiter! Mit den schrittweisen Lockerungen der Corona-Maßnahmen, kehrt auch schrittweise das normale Leben zurück. Selbst Kunst- und Kultureinrichtungen dürfen seit dem 22. Juni wieder öffnen. Schon jetzt laufen wieder Besucher durch das Roemer- und Palizaeus-Museum, im Thega laufen wieder Filme und bald ist dann alles wie immer … Alles? Nicht ganz! Wer dieser Tage pro Kultur ist, dem fällt auf: Das Nachtleben steht immer noch still. In Hildesheim bleibt das Mauerwerk weiterhin geschlossen, genauso das Wohnzimmer. Letzteres versucht sich mit Soli-Gutscheinen über Wasser zu halten. Ebenso die KUFA (mehr dazu hier). Aus aktuellem Anlass widmen wir uns deshalb diese Woche einem Pro und Contra … und fragen uns:

Stirbt das Nachtleben?

Schon vor zwei Wochen fand unser Beitrag „Solidarität – jetzt!“ großen Anklang in Web und Print. Heute denken wir weiter über dieses Thema nach und stellen fest: Die aktuellen Lockerungen suggerieren eine falsche Normalität. Der freien Kulturszene fehlen weitere finanzielle Hilfen – sei es von Kommunen, Land oder auch Bund. Denn kleinere Bars, Clubs und Live-Bühnen blicken weiterhin in eine unsichere Zukunft – wenn sie nicht schon längst das Handtuch geworfen haben. Die Lebensader des Nachtlebens droht zu versiegen. Darauf macht auch der Landesverband Soziokultur Niedersachsen aufmerksam. In einer Pressemitteilung fordert er von der Politik Unterstützung für die Kulturbranche.

Aber warum sollten Clubs, Bars und Live-Bühnen, die sich sonst von Ticket- und Getränkeverkauf finanzieren, öffentlich gefördert werden? Das ist doch keine Kultur!, rufen viele da. Nicht derartig Kultur zumindest, wie Theater, Museen und Konzerthäuser. Doch!, sagen wir.

Höchste Zeit für ein Pro und Contra

Pro:

Auch Nachtleben ist Kultur. Jugendkultur nämlich. Nicht ohne Grund zieht es viele junge Menschen nach coolBerlin, coolHamburg oder coolKöln. Eine lebendige Club- und Barkultur ist ein entscheidender Faktor, wenn es um die Wahl der Studienstadt, des Ausbildungsortes oder eines dauerhaften Wohnsitzes geht. Denn ein Großteil der Jugend geht abends nicht ins Theater oder in den Konzertsaal, sondern in den Club oder die Kneipe. Dorthin eben, wo die Nacht zum Tag gemacht wird. Wo es nicht heißt: Stillsitzen und zuschauen, sondern wo getanzt, getrunken und gefeiert wird. Wo es was zu erleben gibt. Kann eine Stadt das nicht bieten, ist sie nicht dauerhaft attraktiv für junge Menschen. Dann überaltert eine Stadt auf lange Sicht und stirbt aus.

Contra:

Wo Clubs und Bars sind, sind auch Ruhestörungen, Trunkenbolde, verbale und körperliche, sogar gewalttätige, bewaffnete Auseinandersetzungen. Und das soll Kultur sein?

Pro:

Bier zählt auch als Kulturelles Erbe. Das Reinheitsgebot ist sogar im Gesetz verankert. Wenn man nicht anerkennt, dass Nachtleben Kultur ist, weil es oft einhergeht mit Alkoholkonsum und vereinzelten negativen Eskalationen, was soll dann Bierkultur sein …?!

Contra:

Das Nachtleben mag ein Wirtschaftszweig sein. Doch dann muss sie sich auch entsprechend selbst entwickeln und am Leben erhalten. Clubs sollten nicht öffentlich gefördert werden.

Pro:

Ja, das Nachtleben ist ein Wirtschaftszweig, ein großer sogar! Aber eben auch einer, der durch Corona unverschuldet in Not geraten ist. Ein Großteil der Eventbranche kann unter den Bedingungen der neuen Lockerungen nicht genug Einnahmen generieren, um die laufenden Kosten zu decken – vor allem nicht die Personalkosten. So geht‘s uns auch in der KUFA. Normalerweise erwirtschaften wir 80% unseres Haushalts selbst. Aber unter den Corona-Hygieneverordnungen könnten bei einer Wiedereröffnung viele Veranstaltungen nur mit weniger Gästen, aber höherem Aufwand stattfinden. Und die meisten gar nicht. Da ist eine Pleite quasi vorprogrammiert. Wenn andere Branchen, wie z.B. die Autoindustrie, mit Finanzhilfen gerettet werden können, warum dann nicht auch die Eventbranche?

Contra:

Kultur wird gefördert, weil sie einen gesellschaftlichen Nutzen hat. Beliebtheit allein macht Nachtleben nicht zu Kultur, sondern zum Teil der Spaßindustrie. Öffentlich geförderte Kunst und Kultur soll die Möglichkeit schaffen, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken, Themen und Menschen kennenzulernen, die einem im Alltag nicht begegnen.

Pro:

… und genau das tut die KUFA! Der Anspruch des KUFA-Teams ist kein geringerer als Kultur für alle zugänglich und erlebbar zu machen, das Haus als Produktions- und Kommunikationsort, als Kulturwerkstatt und Veranstaltungszentrum zu gestalten und darüber das Kulturangebot der Stadt mitzugestalten. Wir sind überzeugt: Kommunikation fördert Toleranz. Partizipation fördert das Bewusstsein. Aktivierung fördert verantwortungsvolles Handeln. Das passiert nicht nur, wenn Improtheater oder Poetry Slams auf der Bühne stattfinden. Das passiert auch, wenn an den Wochenenden die (zum Teil internationale, in jedem Fall genrevielfältige) Partyfraktion die KUFA in einen rustikalen Club im Industrial Style verwandelt und feiert und tanzt.

Contra:

Öffentlich geförderte Kultur sollte eine bildende Funktion haben. Sie sollte Werte vermitteln, zum Nachdenken anregen und auf diese Art eine Quelle der Inspiration und Orientierung im Alltag sein. Der Besuch eines Clubs oder einer Bar kann das nicht leisten. Dorthin geht man zum Abschalten, nicht zum Nachdenken.

Pro:

Genau wie der kathartische Moment beim Lesen eines guten Romans oder beim Sehen eines guten Dramas sind die ausgelassenen, zeitvergessenen und teilweise ekstatischen Momente für Club- und Konzertgänger*innen ein Ventil. Der Ausgleich zum stressigen Alltag. Denn im Nachtleben gelten andere soziale Regeln und Normen als im Job oder im Theater. Im Nachtleben sind gesellschaftliche Zwänge für ein paar Stunden außer Kraft gesetzt. Clubs und Live-Bühnen sind Orte, an denen Körperlichkeit, Ekstase und im-Moment-Sein möglich sind. Wo man kollektive Erfahrungen von Nähe und Gemeinsamkeit sammeln kann. Daher ist das Nachtleben eine wichtige Quelle von Energie, Inspiration und Lebensfreude, die mit in den Alltag getragen wird.

Contra:

Was auf kleinen Bühnen und in Clubs gespielt wird, ist doch kein kulturelles Erbe, sondern meistens nur eine Reproduktion von dem, was im Mainstream gerade erfolgreich ist. Neue Trends und Ideen kommen nicht aus den Clubs einer Stadt.

Pro:

Alle Künstler*innen, alle Musiker*innen und Bands, die heute von Millionen gefeiert werden, haben mal klein angefangen. Meistens in Clubs, Bars und auf kleinen Live-Bühnen. Nachtkultur ist daher oft der Nährboden, auf dem heranwächst, was später einmal zu Popkultur, Unterhaltungskultur oder sogenannter Ernster Kultur wird. Clubs, Live-Bühnen und Festivals bieten dem künstlerischen Nachwuchs eine Bühne, um sich auszuprobieren, Erfahrungen zu sammeln und neue Ideen umzusetzen. Daher ist das Nachtleben unverzichtbarer Teil kultureller Erneuerung.

Die Forderungen

Das alles sind Gründe, warum ein reges Nachtleben entscheidend für die Lebensqualität einer Stadt ist und damit unverzichtbar – auch in und nach der Krise. Um das Überleben der freien Kultur zu sichern, und somit auch das kleiner Bars, Clubs und Live-Bühnen, fordert der Landesverband Soziokultur Niedersachsen in einer Pressemitteilung finanzielle Unterstützung für Einrichtungen und Mitarbeiter*innen.

Vor allem soll der Zugang zu einer Grundsicherung aller Berufsgruppen erleichtert werden, unter anderem durch eine Anhebung des Kurzarbeitergeldes aber auch durch ein Minimum von 500 € als monatliche Unterstützung. So wird sichergestellt, dass nicht nur diejenigen in der freien Kultur abgesichert sind, die eine Festanstellung haben, sondern auch die vielen Honorarkräfte, Freiberufler*innen und Minijobber*innen. Um soziokulturelle Einrichtungen zusätzlich für die Krise zu rüsten, soll es auch Unterstützung bei der Umsetzung von Hygienekonzepten und beim digitalen Ausbau der Vereine geben – nicht nur finanziell, sondern durch klare und frühzeitige Vorgaben.

Nach der Krise ist vor der Krise!

Der Wandel soll nicht mit der Krise enden. Denn: Die finanzielle Situation in der freien Kulturszene war schon vor Corona prekär. Der Landesverband Soziokultur regt deshalb an, den Dialog fortzuführen. Und auch wir finden: Nach der Krise ist vor der Krise! Die aktuellen Forderungen sichern Einrichtungen und Mitarbeiter*innen der freien Kultur zumindest einen Teil des Lebensunterhalts. Damit das langfristig so bleibt, braucht es mehr Unterstützung – aber auch mehr Anerkennung. Denn: Nachtleben ist Kultur!

Mehr zum Thema:

Die Süddeutsche Zeitung und die Neue Osnabrücker Zeitung berichteten am 3. Juli 2020: „Insolvenzen von Kulturzentren wegen Corona befürchtet“
KUFA Blog-Beitrag vom 20. Juni 2019: „Nachtleben ist Kultur“
wena schreibt: www.wena.de/nachtleben-ist-kultur/
Offener Brief der LiveKomm vom 1. Juni 2020: auf Facebook

– Text: Katharina Schröder