Menschen erzählen sich gern Geschichten. Hier ist eine – oder zwei oder drei … Heute ist der 3. Oktober 2019. Deutschland feiert den Tag der deutschen Einheit. Der Mauerfall am 9. November, das Ende des Zwei-Staaten-Systems BRD und DDR, das Ende des Kalten Krieges ist nun (fast) 30 Jahre her. Das ist eine lange Zeit, in der nicht nur Geschichte, sondern auch Geschichten geschrieben wurden. Auch unter den KUFA-Mitarbeiter*innen gibt es so einige davon zu erzählen. Daher widmet sich der heutige Beitrag der Geschichte und den Geschichten. Denn Menschen erzählen sich gern Geschichten. Hier ist eine – oder zwei oder drei …
Baba (33 | ausm Westen)
Also als gebürtiger West-Berliner müsste ich einen klaren Bezug zur Wende haben, würde man meinen. Aber nein. Ich habe keinerlei Erinnerung. Nicht an die Jahre, die ich auf der westdeutschen Stadtinsel gelebt habe und auch nicht an den Mauerfall. Nur eines hat sich in mein Hirn eingebrannt – leider, muss ich sagen: Meiner Oma, oder Uroma, wurde ein kleines Kofferradio geschenkt mit Aufzeichnungen des Radiosenders RIAS und ein Lied, im opulent-schreienden Arienstil gesungen von einer Frauenstimme, geht mir nicht mehr aus dem Kopf: „Der Insulaner verliert die Ruhe nicht …“
jac (33 | ausm Osten)
Ich komme aus einem Land, das es nicht mehr gibt. Das klingt dramatischer als es ist. Und es ist auch nicht ganz wahr. Die DDR lebt noch immer. Nicht im verschwörungstheoretischen Sinne. Sondern ganz echt in und durch Menschen. Der Nachhall des Regimes, die Art wie uns – also meinen Großeltern und Eltern – die Gedanken gebürstet wurden, selbst die häusliche Umgebung ist nach wie vor geprägt vom Großen Bruder. Wie wir denken, wie wir reden, wie wir uns geben: alles ostdeutsch. Die Kittelschürzen aus Dederon waren mega. Aber die interessieren niemanden mehr. Übrig geblieben sind nur die Vorurteile, die Unterschiede und die Mauer in den Köpfen. Oder positiv formuliert: Den Geist der DDR habe ich selbst, zumindest auf dem Dorf, noch lange beim Heranwachsen gespürt. Dennoch wird es Zeit, dass noch mal 30 Jahre vergehen, damit mir nie wieder jemand sagt: „Du heißt Jacqueline? Dann kommst Du bestimmt ausm Osten und Deine Schwester heißt Nicole.“ … auch wenn’s stimmt.
Jana (26 | ausm Westen)
Die Wende hat kurz vor meiner Geburt stattgefunden und ich finde das Thema genau deshalb spannend, weil ich die Spannung und die Emotionen der Wiedervereinigung und des Mauerfalls zwar gut nachvollziehen kann, aber ich einen persönlichen und emotionalen Bezug zum Thema nicht teilen kann, der jedoch für viele, die den Mauerfall selbst erlebt haben, eine so große und wichtige Rolle spielt.
Lisa (31 | ausm Westen)
Ich verbinde gar nichts mit der Wende. 30 Jahre ist das jetzt her? Na schau, ich bin 31. [zuckt mit den Schultern] Ich bin zu jung für eigene Erinnerungen. Und beeinflusst hat mich der Fall der Mauer persönlich auch nicht, würde ich sagen.
Marc (37 | ausm Westen)
Die Wende bedeutet für mich das Ende … des Kalten Krieges! [lacht auf] Viele Erinnerungen habe ich nicht, auch wenn ich schon ein paar Jahre alt war. Nur mein Vater erzählt immer wieder die Geschichte – und es gibt sie auch auf VHS – wie ich als Knirps an der Berliner Mauer gestanden habe, nach der Wende wohlgemerkt, und mit Hammer und Meißel dran rumgekloppt habe. Ich war quasi aktiv am Fall der Mauer beteiligt. [grinst]
Niels (54 | ausm Westen)
[überlegt schweigend, überlegt lange] Das ist schon so lange her … [wieder Stille im Raum, aber in seinem Gesicht beginnt sich etwas zu regen, Erinnerungen] Die Straße nach Berlin war fürchtlerich. Eine einzige Schotterpiste. Die ist heute deutlich angenehmer zu fahren. Ich war oft in Berlin. Leute besuchen. Feiern gehen. Party machen in West-Berlin eben. Aber bis man erstmal im Nachtleben war … [zieht die Augenbrauen hoch] Nicht nur die Straße war schrecklich. Auch die ständigen Kontrollen. Es gab Staus auf der Straße nach Berlin, weil sie jedes einzelne Auto filzen, jede einzelne Person kontrollieren mussten. Ist schon gut, dass das heute nicht mehr so ist.
Ole (25 | ausm Westen)
Zu diesem Thema kann ich leider nichts erzählen, dafür bin ich einfach zu jung und habe daher keinerlei Bezug zur Wende. Die war ja lange vorbei, als ich geboren wurde. Außerdem waren wir in meiner Familie sechs Geschwister – da waren andere Themen wichtiger.
Phil (33 | ausm Osten)
Geboren und die ersten paar Jahre aufgewachsen bin ich im Osten. Eingeschult wurde ich im Westen. Das war 1992. Meine Gefühle zur Wende sind halb und halb. Verbessert hat sich definitiv und ganz deutlich [hält inne und will eigentlich nicht weitererzählen] die hygienische Situation. Viele ausm Osten werden das bestätigen können: [hält inne und macht eine dramatische Pause] Endlich ein Wasserklosett im Haus! Der Nachteil, den ich dagegen halte: In meiner Klasse war ich der Fremde, der Zugezogene, der Flüchtling. Das wurde – zumindest ein bisschen – wieder aufgewogen durch [seine Augen beginnen zu strahlen] meine Batman Animated Series Actionfigur. Die hätte ich im Osten nie bekommen. Und das könnten wir jetzt beliebig lange so weiterspinnen …
Silke (52 | ausm Westen)
Als ich 1985/86 US-amerikanische Gäste über einen Schulaustausch bei mir hatte, besuchten wir Berlin, auch Ost-Berlin. Es war März. Es war kalt. Alles war grau. Einer der Amerikaner sagte: „This is the snow coverd version of hell.“ Jahre später, als es plötzlich in den Nachrichten war, dass die Mauer fällt, dass die Menschen aus dem Osten rüberkommen, dass die Grenzen jetzt offen sind – da habe ich vor dem Fernseher gestanden und nur noch geheult. Ich habe mich so sehr gefreut. Gefreut für die Menschen, dass sie endlich frei sind. Gefreut für die Menschen, die sich so sehr eine Veränderung gewünscht haben und dass sie diese Veränderung nun ohne viel Gewalt, nicht wie in China auf dem Platz des Himmlischen Friedens, bekommen haben. Darüber hinaus fühlt es sich komisch an: Wovon ich aus persönlicher Erfahrung erzählen kann, das müssen meine Kinder heute in der Schule auswendig lernen. Ich aber war Teil dieser Geschichte.
Stefan (58 | ausm Westen)
Zur Wende wie auch zu meinen Besuchen in der DDR könnte ich viele Geschichten erzählen. Ich war in der Eisfabrik in Hannover. Mein Ensemble und ich probten ein Theaterstück von Herbert Achternbusch. Zum Bühnenbild gehörte ein mini, mini, mini-kleiner Fernseher. Der lief dann zwischendurch immer zur Unterhaltung. Und plötzlich das: Mauerfall. Grenzöffnung. Wir konnten es nicht glauben. Das war alles so surreal: Wir in diesem Theaterkeller. Dieses skurrile Bühnenbild. Die flimmernden Nachrichtenbilder. Und da draußen die Wende.
wena (47 | ausm Westen)
An den Tag, an dem die Mauer fiel, erinnere ich mich gut. Es war Schulzeit. Ich war gerade im Badezimmer, wusch mich, zog mich an. Da kam meine Mutter plötzlich rein und sagte in einem Tonfall zwischen trocken und abfällig: „Stefan, die Grenze ist offen. Jetzt kommen die alle rüber.“ Die leichte Panik, die in ihrer Stimme lag, konnte ich nicht verstehen. Ich war 17. Ich hatte eine Meinung, eine politische Postition. Und die war gänzlich anders als die meiner Eltern. Ich sah unsere Mitmenschen aus dem Osten nicht als Bedrohung. Ich hätte mir gewünscht, dass meine Eltern das erkannt und anerkannt hätten. [überlegt kurz] Und jetzt, 30 Jahre später, denke ich: Nein, wir sind immer noch kein geschlossenes Land. Die Einheit ist noch nicht vollzogen. Die Unterschiede sind auf gravierende Weise immer noch da – in der Landschaft, in der Infrastruktur, in den Menschen.
Und hier noch eine etwas andere Geschichte …